Schutzmechanismus und Herausforderung
Dissoziation ist eine häufige Reaktion auf traumatische Erlebnisse und spielt eine zentrale Rolle im Überleben des Betroffenen während extremer Belastungen. Sie ist ein Schutzmechanismus, den das Gehirn aktiviert, um den emotionalen und körperlichen Schmerz, den ein Trauma verursacht, erträglicher zu machen. Doch obwohl Dissoziation kurzfristig helfen kann, wird sie bei wiederholten Traumata oft zur Herausforderung, die die Verarbeitung und Heilung behindert.
Was ist Dissoziation?
Dissoziation beschreibt einen Zustand, in dem die normale Integration von Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, Emotionen und Wahrnehmung gestört ist. Es handelt sich um eine Art „Abspaltung“ von der Realität oder den eigenen Gefühlen. Der Betroffene kann das Gefühl haben, nicht wirklich „da“ zu sein, oder das Erlebte als unwirklich wahrnehmen. Dieser Zustand schützt die betroffene Person kurzfristig vor dem überwältigenden Schmerz, der durch das Trauma ausgelöst wird, indem er ihr ermöglicht, sich emotional oder mental von der bedrohlichen Situation zu distanzieren.
Dissoziation kann in verschiedenen Formen auftreten:
- Depersonalisation:
Die Person fühlt sich von ihrem eigenen Körper oder Geist getrennt, als ob sie nicht wirklich in ihrem eigenen Körper wäre. Sie könnte das Gefühl haben, sich selbst von außen zu beobachten, als wäre sie ein Zuschauer ihres eigenen Lebens. - Derealisation:
Die Außenwelt erscheint fremd oder unwirklich. Menschen in diesem Zustand fühlen sich, als ob sie in einem Traum leben oder als wäre die Realität verzerrt. - Amnesie:
Betroffene können bestimmte Teile des traumatischen Erlebnisses oder sogar ganze Zeitabschnitte nicht erinnern. Dies ist ein weiteres Symptom der Dissoziation, bei dem das Gehirn bestimmte Erinnerungen blockiert, um den Schmerz zu reduzieren.
Dissoziation als Schutzmechanismus
Während eines traumatischen Erlebnisses wird der Körper von überwältigendem Stress und Angst überflutet. In solchen Momenten aktiviert das Gehirn die Dissoziation als Schutzmechanismus, um den emotionalen und körperlichen Schmerz abzuschwächen. Insbesondere bei wiederholten oder langanhaltenden Traumata, wie beispielsweise bei Kindesmissbrauch oder häuslicher Gewalt, kann Dissoziation häufig auftreten. Sie hilft dem Betroffenen, das traumatische Ereignis zu überleben, indem sie das Bewusstsein für den Moment „ausschaltet“ und eine emotionale Distanz schafft.
Dieser Mechanismus ist besonders nützlich, wenn Flucht oder Kampf keine Optionen sind, um der Gefahr zu entkommen. Die Person „trennt“ sich mental von der schmerzhaften Realität, um das Trauma zu ertragen, ohne von den Emotionen überwältigt zu werden. Viele Überlebende berichten von Momenten, in denen sie während eines traumatischen Erlebnisses plötzlich das Gefühl hatten, „nicht mehr da“ zu sein, als ob sie aus der Situation herausgetreten wären.
Die Herausforderungen der Dissoziation
Obwohl Dissoziation als kurzfristiger Schutzmechanismus wirkt, wird sie bei vielen traumatisierten Menschen zu einer dauerhaften Reaktion. Menschen, die wiederholt Traumata erleben, neigen dazu, Dissoziation als eine Bewältigungsstrategie zu entwickeln, die unbewusst bei jeder stressigen oder belastenden Situation aktiviert wird. Dies führt zu Schwierigkeiten, die Realität wahrzunehmen oder mit den eigenen Emotionen in Kontakt zu treten.
- Beeinträchtigung der Traumaverarbeitung:
Dissoziation erschwert die Verarbeitung des Traumas, weil die Betroffenen keinen Zugang zu den emotionalen und sensorischen Erinnerungen haben. Die Abspaltung dieser Erlebnisse vom Bewusstsein verhindert, dass das Gehirn das Trauma vollständig verarbeiten und integrieren kann. Dies führt oft zu einem „Einfrieren“ der traumatischen Erinnerungen, die in Form von Flashbacks oder intensiven körperlichen Empfindungen wieder auftauchen. - Störung des Alltagslebens:
Chronische Dissoziation kann das alltägliche Leben stark beeinträchtigen. Menschen, die häufig dissoziieren, haben oft Schwierigkeiten, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren, Aufgaben zu erledigen oder ihre Emotionen zu regulieren. Der ständige Zustand der emotionalen Abtrennung kann zu Gefühlen der Leere, der Sinnlosigkeit oder der Unwirklichkeit führen. - Emotionale Taubheit:
Menschen, die dissoziieren, berichten häufig von einem Gefühl der emotionalen Betäubung. Sie haben Schwierigkeiten, positive oder negative Emotionen zu empfinden, was zu einem allgemeinen Gefühl der Entfremdung von sich selbst und anderen führen kann. Diese emotionale Taubheit erschwert es, enge Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen oder das eigene Leben als bedeutsam zu empfinden. - Dissoziative Störungen:
In schweren Fällen von chronischer Dissoziation können dissoziative Störungen auftreten, bei denen die Betroffenen ihre Identität oder ihre Wahrnehmung der Realität dauerhaft verlieren. Eine dieser Störungen ist die dissoziative Identitätsstörung (DIS), bei der eine Person mehrere Identitäten oder Persönlichkeiten entwickelt, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten übernehmen. Diese schwerwiegenden Störungen sind oft das Ergebnis von wiederholten und extremen Traumata, insbesondere in der frühen Kindheit.
Der therapeutische Umgang mit Dissoziation
Die Behandlung von Dissoziation erfordert besondere Sensibilität und Geduld. Da Dissoziation tief in die psychischen Schutzmechanismen integriert ist, muss sie langsam und schrittweise adressiert werden. Therapeutische Ansätze wie die Trauma-fokussierte kognitive Verhaltenstherapie (CBT), Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) und körperorientierte Therapien haben sich als wirksam erwiesen, um dissoziative Symptome zu reduzieren und die Verarbeitung des Traumas zu unterstützen.
- Stabilisierung:
Der erste Schritt in der Therapie ist oft die Stabilisierung des Betroffenen. Dies umfasst Techniken zur Stressregulation, wie Atemübungen, Achtsamkeit oder das Erlernen von „Bodenanker“-Techniken, die den Betroffenen helfen, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren, wenn er beginnt zu dissoziieren. - Sichere Umgebung schaffen:
Ein sicherer Raum ist essenziell für traumatisierte Menschen. Der Therapeut muss eine Umgebung schaffen, in der der Patient sich sicher genug fühlt, um sich den abgespaltenen Erinnerungen und Emotionen zu stellen, ohne überwältigt zu werden. - Integration der dissoziierten Anteile:
Ziel der Therapie ist es, die abgespaltenen oder fragmentierten Erinnerungen schrittweise zu integrieren. Dies erfolgt durch das behutsame Wiedererleben und Verarbeiten des Traumas in einem sicheren therapeutischen Rahmen. Dabei wird den Betroffenen geholfen, ihre traumatischen Erlebnisse in eine kohärente Lebensgeschichte einzubinden.
Dissoziation ist eine natürliche, aber oft herausfordernde Reaktion auf überwältigende Traumata. Sie dient als Schutzmechanismus, der kurzfristig hilft, den emotionalen und körperlichen Schmerz zu lindern, kann jedoch langfristig die Verarbeitung und Heilung des Traumas behindern. Therapeutische Ansätze, die auf Stabilisierung und schrittweise Integration abzielen, sind entscheidend, um Betroffenen zu helfen, wieder in Kontakt mit ihren Gefühlen und ihrer Realität zu kommen. Dissoziation kann überwunden werden, aber der Heilungsprozess erfordert Geduld und Einfühlungsvermögen.